Recherche Tanz-Video-Musik – interaktives Zusammenspiel 

Juni 2020-Oktober 2020

Im Juni 2020, mitten in der Corona-Pandemie, beginnen die Proben zu CONTRAPUNCTUS I. In Berlin treffen die Choreographin Henrietta Horn, der Videokünstler Reinhard Hubert und der Musiker Matthias Geuting aufeinander, um die bereits 2018 uraufgeführte Choreographie CONTRAPUNCTUS zur gleichnamigen Musik von J.S.Bach, in einem Zusammenspiel von Tanz, Orgelspiel, Gesang und interaktivem Videobild zu entwickeln und zu erweitern.

CONTRAPUNCTUS (2018) entstand zur bereits komponierten Musik. 

In der Weiterentwicklung entsteht zu der Choreographie wiederum eine Musik, dazu entwickelt sich der visuelle Raum durch ein interaktives Videobild.

Dabei werden folgende Fragen relevant:

Wer ist beteiligt?
Was ist bereits da?
Was verbindet und vereint uns? Was unterscheidet uns?
Wie generieren wir Daten und welche wählen wir aus?
Was geschieht damit?
Wie kann das Zusammenspiel der verschiedenen Ausdrucksformen zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck führen? Wie kann etwas entstehen, das mehr ist als die Summe der einzelnen Teile? 
Welche Nebensächlichkeiten können zur Hauptsache werden?

Umsetzung: CONTRAPUNCTUS I

Myo-Armband

Da die Choreographie insgesamt auf formale Armbewegungen aufbaut, bietet sich die Nutzung des Myo-Armbands zur Gewinnung von digitalen Daten zur Bildgestaltung an.

Das Myo-Armband wurde bereits in der medialen Arbeit UNTIER (2018) eingesetzt. Es wird am Unterarm getragen, acht Sensoren messen die Muskelspannung der Unterarmmuskulatur.

Durch das Myo-Armband stehen für die Bildgestaltung Daten zur Verfügung, die nicht der hauptsächlich sichtbaren Bewegung entsprechen. Tanzbewegung und Bildgestaltung basieren folglich auf ungleichen Impulsen. Ein ruhig herabhängender Arm wirkt entspannt, eine plötzliche Anspannung kann fast unmerklich erfolgen und wird von den Zuschauenden nicht wahrgenommen. Je nach Gestaltung kann diese unsichtbare Spannung einen großen Impuls im Videobild erzeugen. Es entstehen zeitgleich Kohärenz und Unabhängigkeit zwischen Bewegung und Videobild.

In CONTRAPUNCTUS I entsteht durch das Myo-Armband eine Art Fieberkurve. Es werden zunächst nur die Daten eines Sensors sichtbar gemacht.

Gegenwart und Vergangenheit

Die „Fieberkurve“ zeigt nicht die reale Gegenwart der Bewegung, sondern den Verlauf der jüngsten Vergangenheit an. Punkt Null befindet sich am äußersten Rand der Leinwand, die reale Gegenwart der Bewegung ist in der Fieberkurve nicht mehr sichtbar. Es verbinden sich also zwei Zeitebenen. Die Gegenwart der Bewegung findet im Tanz, die jüngste Vergangenheit der Bewegung auf der Leinwand statt. 

Dazu R. Hubert: Sobald ich etwas gestalte, muss es Vergangenheit sein, sonst kann man es nicht betrachten. 

Sukzessive wird die Anzahl der Sensoren erhöht und das Bild verändert. Dabei zeigt jeder Sensor einen eigenen Kurvenverlauf, ausgehend von der jeweils erfassten Muskelspannung.

Fotos: Ursula Kaufmann

Verwendet werden hier maximal vier Kurvenverläufe. Es entsteht ein Liniensystem, das an Notenlinien erinnert.

Allmählich werden die Linien ergänzt und verändert, dabei bleibt die Impulsgebung durch das Armband unverändert. Aus der Nebensächlichkeit (Unterarmspannung) entsteht nach und nach ein Bild, das die Tänzerin mehr und mehr überlagert. Die Tanzbewegung selbst wird zur Projektionsfläche, Tanz und Videobild verbinden sich zu einem eigenen Ganzen.

Auch in der visuellen Gestaltung gibt es, wie in einer Fuge, ein Hauptthema (Linie) und Variationen. Polyphone Mehrstimmigkeit wird durch die unterschiedlichen nebeneinanderliegenden Zackenlinien sichtbar, die in ihrer Unterschiedlichkeit ein homogenes Bild ergeben. Die Vielstimmigkeit wird mal räumlich in Beziehung zueinander gesetzt oder vervielfacht. Die Intensität, Geschwindigkeit und Farbe der Linien verändert sich. 

Das Prinzip bleibt dabei gleich, Ausgangspunkt bleibt die Linie, keine andere Form wird eingesetzt.

Im späteren Verlauf reduziert sich die Komplexität, bis nur eine, weichgezeichnete Linie übrigbleibt, dieses Mal vertikal. Die Bewegung beruhigt sich, damit reduzieren sich auch die Zacken. Es entsteht optische Stille.

Die Uraufführung von CONTRAPUNCTUS I fand am 10.10.2020 in der Fabrik Heeder in Krefeld statt.

Konzept, Choreographie und Tanz: Henrietta Horn | Licht, Video: Reinhard Hubert | Musik: Matthias Geuting | Kostüm: Margit Koch | Organisation: Sabina Stücker

Uraufführung: 10.10.2020 im Rahmen des Festivals MOVE! 

Fabrik Heeder, Krefeld