Horst 1996 | UA

Choreographie und Tanz:
Henrietta Horn
Musik:
Bela Bartok
Lichtdesign/Technische Leitung:
Roger Irman

Spieldauer:
12 Minuten
Uraufführung:
1996 Essen

Die Fotos sind von der Aufführung im Jahr 2007.

Ausgewählte Pressetexte
Bettina Trouwborst | Westdeutsche Zeitung 16.6.1997

Tänze wie Traum oder Wasser

Henrietta Horns bewegende „Gewege“ im Konzertsaal des Theaters

„Gewege“ nennt Henrietta Horn ihr erstes abendfüllendes Programm – kein Druckfehler. Wer die fünf kurzen Arbeiten gesehen hat, weiß, was die junge Choreographin und Tänzerin mit ihrer Wortschöpfung meint, die sofort auf ihre Folkwang-Herkunft schließen läßt. Das Publikum im Konzertsaal des Mönchengladbacher Theaters jedenfalls – wie die begeisterte Reaktion zeigte – hat sie verstanden. Es sind exquisite, selbstverlorene Tanz-Stückchen, denen eine geheimnisvolle Ruhe entströmt…

…Am nachhaltigsten aber bleibt „Horst“ (1996) im Gedächtnis- Wie der Struwelpeter sitzt Henrietta Horn mit zerzaustem Haar, hängendem Kopf und nach innen gewendeten Füßen und Beinen am Boden. Zu einer verspielt-melancholischen Komposition von Bartok beginnt sie autistisch im Takt zu wippen. Mit spitzen Ellenbogen stößt sie gegen die Außenwelt, wirft ihre Mähne aufbegehrend um sich. Die Arme kreisen in rasender Geschwindigkeit vor ihrem Körper, als wollte sie ihr Inneres nach außen schleudern. Schließlich steht sie da mit weit geöffnetem Mund – wie auf Edward Munchs Gemälde „Der Schrei“.

Ein bewegendes Stück…

Ein ungewöhnlicher Tanzabend.

Melanie Suchy

Zwischen Rekonstruktion und Konfektion

Der Folkwang Tanzabend 2007

… Die drei kleiner besetzten Stücke waren Rekonstruktionen. Kostbarkeiten

…Auch Henrietta Horn, Leiterin des Folkwang Tanzstudios, hat ein Solo wiedererstehen lassen. Hatte sich aber nach der Arbeit mit sechs Tänzerinnen (IV. Jahr) entschieden, die eine Figur zu vervielfachen. „Horst“ von 1996 ist nun eine Gruppe Frauen, die nie wie Individuen aussehen, sondern, mit wuscheligen wehenden Haaren und gleichen Bewegungen, als seien sie entpersönlicht. Was den unheimlichen und bedrückenden Eindruck von „Horst“ noch bestärkt. Zunächst sitzen sie mit gestreckten Beinen auf dem Boden und wippen ihre Oberkörper unendlich oft vor und zurück. Winzige Differenzen im Tempo. Dazu spielt ein Liedchen mit Flöte, fast fröhlich, kommt zum Ende, schweigt, fängt wieder an. Ewige Male immer wieder von vorn, wie die Spieluhr eines Kindes, das nichts anderes wahrzunehmen hat außerhalb seiner selbst. Manchmal bäumt sich eine der Tänzerinnen auf, drückt die Hüfte nach oben. Sinkt zurück. Sie wechseln die Richtung. Zwischendurch gleiten sie schaukelnd, auf eine wandernde Hand gestützt, über den Boden. Am Ende schießen sie ihre Köpfe nach oben, bis zum Stand, reißen die Münder auf, tonlos, und sacken wieder ab. Man meint, Vogelkinder im Nest zu sehen, „Horst“, am Ende ihrer Kräfte, mit letztem Ausdruck ihres Bedürfnisses nach Zuwendung. Eine Leistung großer Konzentration von Ines Fischbach, Ekaterine Giogadze, Karen Ilander, Elisabeth Karner, Tomoko Yamashita und Elvira Zúniga

Evelyn Finger | Die Zeit

Kern der Angst

Großes Tanztheater in Führt: 33 Choreographen für 33 im Holokaust ermordete jüdische Waisenkinder.

Vom Schrecklichsten gab es bisher keine Bilder. Es gab Originalaufnahmen von Massenerschießungen osteuropäischer Juden. Es gab Photos von Deportationen, von der Ankunft in Auschwitz, von Selektionen, von Häftlingen auf dem Weg zur „Sonderbehandlung“, von Kofferbergen, Kleiderbergen, Leichenbergen. Es gab Ohrenzeugenberichte von den Schreien aus den Gaskammern und Augenzeugenberichte der Sonderkommandos, die die ineinander verkrallten Toten ins Krematorium transportieren mussten. Aber während ihres langsamen Sterbens, wenn die Opfer zu Hunderten nackt in einen kalten Raum gepfercht standen und das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B einzuatmen begannen, blieben sie allein – allein mit dem Schock über den tatsächlich aus den Duschköpfen auf sie herabströmenden Tod.

„Das zu zeigen“, sagte der Regisseur des epochalen Dokumentarfilms Shoah, Claude Lanzmann, letzte Woche in einem Interview in der FAZ, „hat niemand gewagt.“

Aber nun gibt es doch ein Bild aus dem verborgenen Innenraum des Holocaust, von dort, wo selbst die SS nicht filmte, sondern das Licht ausschaltete, sobald sie die giftigen Pellets in die Belüftungsöffnungen schüttete. Es ist eine mutige Szene aus einer der mutigsten Inszenierungen der bisherigen Tanzgeschichte, Jutta Czurdas dreistündigem Requiem Mayim Mayim,das einen Tag nach Erscheinen des Lanzmann-Interviews Premiere in Führt hatte. Man muß sich eine einsame Frauenfigur auf halbdunkler Bühne vorstellen, wie sie ruckartig tanzt, ohne vom Fleck zu kommen. Aber was heißt hier tanzen? Sie geht nicht, und sie kriecht nicht, sie rutscht, am Boden sitzend, in stoßweisen Schüben rückwärts, seitwärts, vorwärts. Ihre Gliedmaßen fliegen, ihre Schultern zucken, ihr ganzer Körper bebt in dem übermenschlichen Versuch, eine Art Haltung zu bewahren. Und plötzlich treibt es die Frau hoch, sodass sie frontal zum Publikum steht, fest und etwas breitbeinig, mit hängenden Armen, aufrechtem Oberkörper, gerecktem Hals und stumm aufgerissenen Mund wie eine Ertrinkende oder eine lebendige Version von Edvard Munchs Gemälde Der Schrei. Als einzige Regung sieht man das Pumpen ihres Atems. Die vollkommene Stille im Zuschauerraum trägt das Geräusch ihres Keuchens bis in die letzte Reihe.

Die 19. Szene in dieser außergewöhnlichen Tanzcollage, bestehend aus 33 Solochoreographien zum Gedenken an 33 ermordete Kinder des jüdischen Waisenhauses Fürth, ist keine naturalistische Abbildung des Holokaust, sondern eine Tanztheaterallegorie für die Auslöschung des menschlichen Körpers. Ihr Gelingen lässt sich in Worten schwer nacherzählen. Denn hier nimmt die unsägliche letzte Angst tatsächlich Gestalt an. Der Körper war ja seit 1945 kaum Thema in den moralphilosophischen Kunstdebatten über die Undarstellbarkeit des Judenmordes.

…Zwar kennt heute jeder die Befreiungsphotos der knochendürren Gestalten mit den geschorenen Schädeln und den eingesunkenen Gesichtern. Zwar haben die wenigen, überlebenden Häftlinge der Sonderkommandos berichtet, wie der Körper sich im Todeskampf grausam verselbstständigt, wie er andere Körper niedertrampelt und noch nach dem letzten Schluck Luft giert, wenn es keine Rettung mehr gibt. Doch in der intellektuellen Aufarbeitung wurden die extremen physischen Zurichtungen, die mit dem Holokaust einhergingen, nach Möglichkeit tabuisiert: Halb aus Scham, halb aus Respekt vor den Ermordeten verlegte man sich auf nüchtern-statistisches oder abstrakt-poetisches Umschreiben des Massenmordes.

Das Berührungsverbot gilt noch immer. Deshalb braucht man als Zuschauer von Mayim Mayim (Hebräisch für „Wasser“ als Sinnbild des Lebens) eine Weile, um zu erkennen, worauf Szene 19 sich bezieht. Erst als mehrere Tänzer sich um die keuchende Frau gruppieren, begreift man. Sie atmen nun im Chor und fallen dann abrupt zu Boden, sodass die Bühne mit einem Schlag leer ist bis auf die schwarz gekleideten Musiker im Hintergrund. Dann kommen die Tänzer wieder hoch, stehen noch einmal keuchend, sacken zusammen, stehen auf, sacken weg…

Jutta Czurda hat vor über einem Jahr bei 33 internationalen Choreographen kurze Soli bestellt und sie zu einem eindrucksvollen Ganzen komponiert. Szene 19 stammt von Henrietta Horn, Szene 1 von der Nestorin des israelischen Tanzes, Yehudit Arnon, andere Szenen von Rami Be`er, Sasha Waltz, Tero Saarinen, Ohad Naharin, Elisa Montes und auch von weniger bekannten Künstlern, etwa aus dem Senegal, aus Indien, von der Elfenbeinküste. Sie alle haben je einen Tänzer oder eine Tänzerin nach Fürth entsandt.

Das klingt zunächst nur gut gemeint, ist aber als Kunstwerk grandios gemacht. Den die disparaten Gesten aus den verschiedenen Kulturkreisen drücken alle Aspekte des Schmerzes aus, aber auch das innere Aufbegehren der Opfer und die Lebendigkeit der verschwundenen, in Rauch aufgegangenen Menschen, die mit der Zahl sechs Millionen nun einmal nicht zu erfassen sind…

Rheinische Post | 16.6.1997

Horst ist nicht da

Tanzabend „Gewege“

Henrietta Horns Choreographien fordern die Phantasie des Betrachters heraus. Ohne Worte, nur mit Bewegungen, Gesten, Mimik zur Musik erzählen sie und die Mitglieder ihrer Kompanie Geschichte, lassen Gefühle lebendig werden. Da irren zwei Schwestern herum. Die völlig leere Bühne scheint sich vor dem geistigen Auge des Zuschauers in einen dichten Wald zu verwandeln. Wie eine Beschwörung wirkt der Tanz „Ewi A Malachim“, bei dem Henrietta Horn einen Regenstock, ein chilenisches Instrument aus Kaktus, verwendet. Die Bewegungen fließen weich wie Wasser. Die 20minütige Pause des Tanzabends war nicht lang genug für die Besucher, um sich über die Ausdruckstänze, die sie gesehen hatten, zu unterhalten. Etwa über „Horst“, eine Choreographie zur Musik von Bela Bartok.

Wie ein verstörtes Kind, gesenkten Kopfes, sitzt Henrietta Horn bei diesem Tanz auf der Bühne. Sie wippt mit dem Oberkörper, rutscht plötzlich ruckartig hin und her, zuckt, wie in einem Anfall, verfällt dann aber wieder ins Wippen. Sie windet sich, kommt schließlich auf die Beine, stößt einen stummen Schrei aus. „Horst ist verzweifelt!“ ließ sich eine Besucherin in der Pause vernehmen. „Nein, Horst ist nicht da. Deshalb trauert die Tanzende“, entgegnet ihre Begleiterin energisch. Einig wurden sie sich nicht. Was können sich zeitgenössische Künstler schöneres wünschen, als die Auseinandersetzung über ihre Darbietungen.