Kaiserkleider (2016)

Eine Produktion von Henrietta Horn (Choreographie), Reinhard Hubert (Licht und Video) und Frank Schulte (Sound)

Nach ihrer Choreographie „Rotlicht setzt sich Henrietta Horn erneut mit der Frage der genreübergreifenden Kunst auseinander. 

In „Kaiserkleider“ treffen Henrietta Horn, der Klang- und Medienkünstler Frank Schulte und der Video- und Lichtkünstler Reinhard Hubert mit ihren unterschiedlichen Medien aufeinander. Treffpunkt der drei ist ein Märchen von Hans Christian Andersen: Des Kaisers neue Kleider.

In „Kaiserkleider“ geht es weniger um die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Märchen. Vielmehr geht es um Lüge und Wahrheit, um listigen Betrug und eine wahrhaft kaiserlichen Pleite. Die Moral erschließt sich von selbst, Mittelpunkt ist eher das Hintergründige der Geschichte und der Text an sich. Durch zufälliges Wiederholen und Betonen einzelner Passagen und Worte wird der Text in einen immer wieder neuen Kontext gestellt, das gelesene Wort wird die Grundlage der musikalischen Gestaltung sein und der Text die Grundlage für die Bewegung.

Die drei Künstler suchen nach Strukturen in Chaos und Ordnung, fragen nach Themen wie Sein und Schein, selektiver oder objektiver Wahrnehmung und erforschen immer wieder die Frage nach den künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten im zufallsgenerierten Geschehen. 

Lässt man dem Zufall im Bühnengeschehen freien Lauf, entsteht dann Chaos? Die Chaosforschung beschreibt das Chaos als einen Zustand, der keinen erkennbaren Regeln folgt, in dem sich kein Muster erkennen lässt. Deshalb ist das totale Chaos für die Chaosforschung eigentlich uninteressant – sie interessiert sich vielmehr für die Ordnung im vermeintlichen Chaos oder eben auch für den Übergang von Ordnung zum Chaos.

Ebenso wie für die Chaosforschung ist auch für eine Bühnenarbeit das totale Chaos uninteressant. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das totale Chaos auf einer Bühne überhaupt möglich ist. Wie kann man totales Chaos, das Vermeiden jeder Ordnung überhaupt erreichen? Ergäbe sich, selbst bei konsequentem Chaoswillen, nicht doch irgendwann eine Art Ordnung?

Und was hätte man, selbst bei gelungenem Experiment erreicht, abgesehen vom totalen Chaos?

Dem totalen Chaos zuzusehen ohne jegliche erkennbare Ordnung dürfte selbst den hartgesottensten und neugierigsten Zuschauer nach einer Weile zum Verlassen des Raumes bewegen. Das Chaos wird interessanter, wenn sich im „vermeintlichen Chaos“ möglicherweise doch etwas erkennen lässt, eine kleine, leise Spur der Ordnung zu erahnen und zu verfolgen ist. Damit wird das Chaos zum „vermeintlichen Chaos“ und kann nun zum Untersuchungsgegenstand sowohl für Chaosforscher als auch für die Bühne werden.

Vielleicht kann man das „vermeintliche“ Chaos als einen Zustand der Reizüberflutung beschreiben, eine Überforderung der Sinne, in der die Ordnung nicht mehr offensichtlich erkennbar ist.

„Kaiserkleider“ befasst sich mit Erwartung und Wahrnehmung, hinterfragt, fordert und trennt, beim Zuschauer wie  bei den Akteuren. Sparten werden getauscht, Aufgaben neu verteilt. Ist das transaktive Kunst oder Dilettantismus? In der konzentrierten Atmosphäre des Theaterraums entsteht, was sich sogleich wieder verwirft, weil es sich hinterfragt und untergräbt.


Konzept, Choreographie, Tanz: Henrietta Horn

Sound: Frank Schulte

Licht- und Video: Reinhard Hubert

Management: Alexandra Schmidt

Uraufführung: 28./29.10.2016

Eine Produktion von Henrietta Horn, koproduziert von pact zollverein, gefördert durch das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport, das Kulturbüro der Stadt Essen, die Baedeker Stiftung und die Sparkasse Essen.


Trailer

Pressetexte

Des Kaisers neue Kleider

Sinnlich-Intelligent-Kunst

tanzweb.org 11/16, Klaus Dilger

„Kaiserkleider“ ist eine fein getaktete und präzise vermessene Choreographie für bewegte, oder besser, tanzende Teilchen, seien sie nun menschliche Materie, Licht- oder Tonfrequenzen, die einander umhüllen, anstossen, übereinander hinwegfegen oder gemeinsam der Bewegung der Schatten lauschen, die von vier riesigen Monolithen ausgehen, in die sich die Projektionsflächen des Bühnenhorizonts zur Mitte der Performance hin verwandelt haben.

Uraufführung war am 28. Oktober im Essener PACT Zollverein, der dieses Stück auch als Koproduzent mitgetragen hat.

Gemeinsamer Ausgangspunkt der Künstler, die zu Beginn die Bühne zusammen und bekleidet betreten, um sie ganz am Ende wieder vereint und nackt zu verlassen,  ist das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen, bei dem es bekannter Maßen um arglistige Täuschung, Betrug, Lüge und Wahrheit geht, um Ego, Sein und Schein, Dumme die Kluge sein wollen, Bücklinge und Macht und einen nackten Kaiser, dessen nichtexistente Kleider erst durch jemanden so benannt werden, der nichts mehr in deren Gesellschaft zu verlieren hat. (Andersen hatte die Vorlage, bei der ein schwarzer Stallknecht die Nacktheit des Kaisers benannte, so bearbeitet, dass in seinem Märchen ein Kind die entlarvenden Worte sprach)

Horn, Schulte und Hubert greifen sich den Text ohne Narration und schaffen das Kunststück, aus dem Wortsinn Sinnlichkeit entstehen zu lassen, bei der es nichts zu greifen, zu tasten, zu schmecken oder zu riechen gibt, wohl aber zu sehen und zu hören, denn diese „neuen Kleider“ bestehen nur aus Worten und Buchstaben, die die Künstler ganz nach Belieben durch den Teilchenbeschleuniger jagen oder dem Stillstand nahe bringen. Hierbei entstehen grossartige Bilder, Ornamente und Muster, beinahe so, als wären die Kaiserkleider der Vorlage doch real. Wie sehr sich der Zuschauer hierbei an die Bedeutung von Worten und Buchstaben klammern möchte, aus Buchstabenreihen Textstellen extrahiert, bestimmt er selbst. Sie werden so zu Beobachtern und im Sinne der Quantenphysik zu Stimulanten des Bühnengeschehens zugleich.

Nichts ist hier von Dauer, alles flüchtig und hinterfragbar. Wie präzise auch immer die Strassen aus Worten die Richtung vorgeben mögen, die Reinhard Hubert in die Bühne des PACT Zollvereins projiziert, so unmittelbar desavouiert Frank Schulte diese mit seinen Chören, die die Zuschauern mit ihrem Wortgeflüster zu umringen scheinen. Alles wird zum Tanz aus Licht, Körper und Ton und Henrietta Horn zur geometrischen Eigenschaft der Raumzeit, wie Einstein sie in seiner allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben hat. Sie wird zum Kraftfeld, das im Zusammenspiel mit Projektion und Komposition Raum und Zeit zu krümmen scheint. Hubert selbst greift dieses Bild im Verlauf der Präsentation immer wieder auf.

Was anderes ist denn Tanz, als Gravitation die aus einer Krümmung von Raum und Zeit entsteht? In einer Choreographie die Projektion, Komposition und Bewegungskunst aufs Grossartigste zu einem Ganzen verdichtet, wird dies wie selten offenbar.

Die Künstler spielen in „Kaiserkleider“ auf berauschende und virtuose Weise mit den Modellen der Quantenphysik, wie sie in dieser Klarheit und Qualität sonst nur schmerzlich vermisst werden.

Das Ergebnis ist in rarer Weise ein Gesamtwerk – es ist SINNLICH – INTELLIGENT – KUNST und das alles zugleich!

Konzept, Choreographie, Tanz: Henrietta Horn ● Sound: Frank Schulte ● Licht- und Video: Reinhard Hubert

„kaiserkleider“ von Henrietta Horn auf pact

NRZ/WAZ Kultur, Martina Schürmann,4. November 2016 

Des Kaisers neue Kleider, sie formen sich in Henrietta Horns neuer Choreografie aus pulsierenden Klangfetzen und blinkenden Buchstabenreihen. Sie legen sich wie ein vibrierender Vorhang über die Bühne, fluten den Raum wie eine Wörter-Moräne, sind gerade da und schon wieder verschwunden, wie vom einem Zufallsgenerator verteilt. „Kaiserkleider“ nennt die Essener Choreografin ihr neues Stück, das jetzt auf Pact Zollverein seine gefeierte Uraufführung erlebte. Ein spannender Dialog von Körper, Sound und Licht, ein facettenreiches Spiel um Sein und äußeren Schein, den Henrietta Horn mit flirrenden Bildern hinterfragt.

Schon im Eingangsbereich wird der Zuschauer mit einer Klang-Collage von Tonbändern und Kassettenrekorder eingestimmt. Die langjährige Leiterin des Folkwang Tanzstudios nimmt Andersens Märchen über Lüge, Eitelkeit und Selbstbetrug zum Anlass einer intensiven Auseinandersetzung über die Kluft von Erwartung und Wahrnehmung. Zusammen mit dem Klang- und Medienkünstler Frank Schulte und dem Video- und Lichtkünstler Reinhard Hubert hat die Künstlerin dabei einen fesselnden Dreiklang aus Licht, Ton und Bewegung kreiert, der das scheinbar Vertraute immer wieder neu formiert. Mal scheint ein Scheinwerfer dabei die tänzerische Bewegung zu steuern, mal prallen Körper und Sound im kraftvollen Widerstreit aufeinander, sich belauernd, miteinander ringend. Konsequent wird der Abend zu Ende geführt. Wer dem schönen Schein erliegt, steht am Ende buchstäblich nackt da.

 

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