Reise mit Artischocke
Locker, leicht und traumverloren: Folkwang Tanzstudio
Michael Kohlstadt – WAZ 10.12.2004
Der Titel legt es nahe: Mit seinem neuen Stück „Artischocke im Silbersee”
nimmt das Folkwang Tanzstudio uns mit auf eine fantastische Reise. Und wer
meint, in der Flut schöner Bilder nach Tiefgang tauchen zu müssen, dem ist
nicht zu helfen.
So locker und leicht, so traumverloren und selbstironisch, so elegant und
formvollendet wie nun in der Aula der Folkwang Hochschule geht es selten zu im
zeitgenössischen Tanz. Im Unterschied zu vielen anderen neuen Tanzschöpfungen
gibt es in diesem Spiel der Farben, Formen und Rhythmen keine leidenden Körper,
brennenden Seelen, flimmernden Videos.
Dafür aber extravagante Kostüme (Margit Koch) und subtiles Licht:
„Artischocke im Silbersee” ist – sagen wir es ruhig – eine Augenweide. Nein,
Henrietta Horn, die sensible Choreografin und Leiterin des Folkwang
Tanzstudios, will nicht verstören. Vielleicht will sie nicht einmal eine
Geschichte erzählen, jedenfalls keine ums geläufige. Denn „Artischocke im
Silbersee”, das ist reine Erfindung, eine Momentaufnahme der Fantasie: Eine
junge Frau im Sommerkleid mit Sonnenbrille und Badehaube (in Artischockenform).
Ein Perlenvorhang, der silbern glitzert und sich zu arabesken Säulen formen
lässt. Silhouetten vor blutrotem Hintergrund, die im Takt der Musik die Hüften
wiegen. Tänzer mit langen Stäbchen-Fingern, die eine wunderbare Balletparodie
abgeben. Fabelgestalten von katzenhafter Geschmeidigkeit. Dazu Musik, die
herrlich süffisant klingt: Jazz, Samba, Soul und – als wär´s der Ball der
einsamen Herzen – die gute alte Elektro-Orgel. All das zieht in gut 60 Minuten
am Betrachter vorüber, der sich nicht satt sehen kann an dieser Revue oft
geradezu surrealer Einfälle.
Mehr noch als in ihren früheren Stücken hat Henrietta Horn ihren
ausgeprägten Sinn für starke Bildkompositionen mit der enormen Eloquenz
tänzerischen Erzählens vereint. Die Choreografie vermeidet alles Floskelhafte,
Bewegungen entwickeln sich organisch aus der natürlichen Körperspannung heraus.
Auch kann sich Henrietta Horn nach Belieben aus dem Schritte-Repertoire des
Showtanzes bedienen, so sicher wandelt sie auf dem schmalen Grat, der die Kunst
vom Kitsch trennt. Hinzu kommt die Souveränität der elf Tänzer dieser
erstklassigen Compagnie. Sie ist zu Recht – und gar nicht museal – ein
weltweiter Botschafter der großen Folkwang-Tanztradition.
„Frohsinn im Aquarium”
Jochen Schmidt – Ballettanz 11.2004
Da steht sie nun, hochhackig im grünen Kleidchen, eine schuppige Bademütze
auf dem Kopf, mitten im Bühnenaquarium, das zwei Reihen goldglitzernder, vorn
zunächst zu Pfeilern geraffter Schnüre im Düsseldorfer Tanzhaus markieren,
gleichsam als Verkörperung des Stücktitels: die Choreografin Henrietta Horn
spielt die „Artischocke im Silbersee”. Sie streckt eine Hand aus und zuckt mit
der Hüfte, und mit der Zeit wird aus der Andeutung eines Charlestons ein
fröhlicher, etwas staksiger Solotanz.
Henrietta Horns neues Stücks für das von ihr geleitete Tanzstudio der
Essener Folkwang Hochschule will erklärtermaßen „eines nicht: subtil
reflektieren, tiefgründig hinterfragen, schonungslos abrechnen”. Es versteht
das Theater nach Jahren der tanztheatralischen Verkrampfung „nicht mehr als Ort
der Kritik und Abrechnung mit dem Menschsein”, sondern vielmehr als
„Tankstelle” für Lebensfreude und Energie”. Also versucht es, fröhlich
loszutanzen zu den Klängen von Hammondorgel und Jazzmusiken, zuweilen auch
einfach zum leisen Klackern von Trommelstöcken und anderen Rhytmusinstrumenten.
Die Hauptlast – wenn denn die Vokabel „Last” in diesem Zusammenhang
angebracht wäre – der exakt einstündigen Choreografie trägt dabei nicht die
mittanzende Choreografin, die nur ab und an ein solistisches Ausrufezeichen
setzt, sondern das zehnköpfige, aus Frauen und Männern bestehende Ensemble in
schicken, bunten Revuekostümen von Margit Koch. Die fünf Frauen kommen meistens
auf hohen Stiletto-Schühchen daher, und alle haben ihre Finger mit spitzen
Aufsätzen verlängert: meistens spannen-, mal auch halbmeterlang: eher komische
als gefährliche Schalentiere in einem vom Grünblauen ins Rötliche changierenden
Kunstsee, in dem sie mit ständig zunehmendem Tempo schwimmen mit ruckenden,
zappelnden Bewegungen.
In der schönsten Szene des Stücks stellen die Tänzer eine Miniaturbühne auf
die Bühne und lassen ihre enorm verlängerten Finger als marionettenhafte Beine
eine virtuosen Stepptanz aufführen, während seitlich davon zwei der Männer mit
klassischen Posen das alte Ballett parodieren, mit dem sie nichts mehr im Sinn
haben.
„Artischocke im Silbersee” ist fraglos Henrietta Horns bislang lockerstes
Stück: leicht und ironisch hingetupft in eine (von der Choreografin selbst
zusammen mit Reinhard Hubert entworfene) Traumkulisse wie aus Tausendundeiner
Nacht: halb Orient, halb Harun al Raschids Meer der Geschichten. Der Gefahr,
allzu flach zu werden, entgeht Henrietta Horn, indem sie der Choreografie,
sobald sie allzu sehr im Ungefähren zu verschwimmen droht, immer wieder eine
neue, dunklere Ebene einzieht, mit seltsamen, vielleicht sogar gefährlichen
Wesen, denen man in der Realität nicht begegnen möchte. So hält sie ihren Traum
in einer glücklichen Balance: leicht, aber nicht banal, mit einem Touch von
Geheimnis.
Spitzbübische Raffinesse statt subtiler Reflexion
Dagmar Schenk-Güllich – Tanzjournal 6/04
Kaum zu glauben: Da steht eine Henrietta Horn auf der Bühne, wie man sie
nicht kennt: Im poppigen grünen Kleidchen, auf hochhackigen Schuhen, mit
überdimensionierten Fingernägeln und Sonnenbrille ausgestattet, auf dem Kopf
etwas wie eine Bademütze mit Blättern. Der Titel des neuen Stück sagt: was es
sein könnte – die Andeutung einer vierblättrigen Artischockenknospe.
Artischocke im Silbersee heißt es, und es ist so ganz anders als all die
dramatischen, tiefgründigen Werke, die man von ihr kennt – keine Spur mehr von jenem
Solo aus dem Jahr 1999, dem beklemmenden Monodrama, keine Spur mehr vom
aufwühlenden Elementen in Lakenhal aus dem Jahr 2001, wenig zu spüren vom
Minimalismus des Auftauchers (2001) oder die Verzweiflung des früheren Stücks
Horst. Die Leiterin des Folkwang Tanzstudios an der Essener Folkwang-Hochschule
zeigt eine andere Seite ihre Persönlichkeit, eine freche, vor Phantasie,
Heiterkeit, Ironie und leichtem Humor nur so übersprudelnde.
Glasperlenschnüre hängen in dichter Reihe im Vorder- und Hintergrund der
Bühne. Wenn das Licht darauf zielt, glitzern sie wie Silberfäden. Durch sie
wird hindurchgelugt, sie werden bewegt wie Wellen, sie werden auch gebündelt
und einmal sogar als Stränge gefährlich durch die Luft geschleudert. Ein
Kunstsee ist das, voller Bewegung und märchenhafter Poesie, in dem das Ensemble
seine ruckenden und zuckenden Schwimmbewegungen, seine lockeren Hüftschwüngen
und sein Hüftgewackel, seine Vibrationen vollführt. Alle elf Tänzer tragen an
der Fingerenden lange, spitze Aufsätze – manche zehn Zentimeter lange, manche
einen halben Meter lange. Das wirkt befremdlich und sehr ästhetisch, das macht
aus dem tanzenden, die wunderbare leichte Haute-Couture-Kleidchen von Margit
Koch tragen, komische und exotische Wassertierchen. Henrietta Horn selbst zeigt
solistische Episoden und setzt die Akzente – spitzbübisch und ironisch wirkt
sie. Ihr Tanz beschränkt sich – und da ist sie die Choreographin, wie man sie
kennt – auf wenige, rhythmisch äußerst exakt ausgeführte Bewegungen. Sonst ist
sie ihrer Handschrift doch noch treu geblieben, auch wenn Entertainment und
Leichtigkeit Regie führen: Trotz aller Ausgelassenheit, die ihr Ensemble
mitreißend und virtuos außer Rand und Band geraten lässt, sind
Ausdrucksintensität und die Strenge ihrer Hand spürbar.
Inmitten des Stucks gibt es ein reizendes Intermezzo: Da knien die Tänzer auf dem Boden und lassen ihre lange Finger als Marionettenbeine im Steptanz über den Boden staksen. Daneben sieht man Tänzer in langen Unterhosen, die klassische Possen parodieren. So erlebt man eine Reihe hinterher, ironischer, immer geschmeidig getanzter Szenen. Dass die Truppe selbst ihre Freude hat, ist unübersehbar.